Kurz vor Weihnachten erreichte mich die Nachricht, dass Band 1 der Schamanischen Märchen der neuen Zeit zu dünn sei für Hardcover. Mindeststärke sei 70 Seiten. So setzte ich mich spontan an den Rechner, um ein neues Märchen zu schreiben. Die von mir betreute Schriftstellerin Samuela Frei und ich hatten in den vergangenen Tagen ganz intensiv mit der neuen App von tredition gearbeitet und gerieten schon mal an die Grenzen unserer Geduld. Da die freigegebenen Bände nicht und nicht im Shop auftauchen wollten, erzählte ich, dass die Weinbergschnecke und der Frosch einfach in der Cafeteria von tredition abhängen würden. Das war die Basis für das Märchen. Nun bekam ich die Nachricht, dass Hardcover grundsätzlich nicht im geplanten Format von DIN A6 zu drucken sei. Ich erspare mir den kompletten Umbau des Innenteils von Band 1 und veröffentliche des Märchen deshalb hier.
Die erste, die aus der Reihe der Schamanischen Märchen der neuen Zeit bei tredition eintraf, war die Weinbergschnecke in ihrem bunten Haus. Sie war nicht das erste Mal in einem Selfpublisher-Verlag. Schon im Frühjahr 2019 hatte sie sich mit einem Booklet in Druck begeben. Doch irgend etwas war diesmal anders. Sie wurde neugierig und kletterte gleich in der ersten Nacht aus dem Server ins Freie. Naja, ins Freie war relativ. Sie glitt das aufgeheizte Computergehäuse abwärts und freute sich, als sie auf der etwas kühleren Tischplatte ankam und schliesslich an dem kalten, metallenen Tischbein in Richtung Boden glitt.
Büroräume waren auch für Schnecken ganz erträglich mit ihren glatten, pflegeleichten Böden. Der Boden schmeckte nach Zitrone. Das Putzmittel war schneckenfreundlich ohne ätzenden Chemikalien. Das gefiel der Schnecke sehr. Die gedimmte Nachtbeleuchtung erleichterte es ihr, sich zu orientieren. Die Tür zum Gang stand weit genug offen und die Schnecke glitt lautlos durch sie hindurch. Da roch sie welken Salat, ihre absolute Lieblingsspeise! Gelassen folgte sie der Duftspur, die Büroräume schienen alle leer zu sein. Das war gut, so lief sie nicht Gefahr, zertreten zu werden.
Die Cafeteria lockt nicht nur Weinbergschnecken an
Ihr feiner Geruchssinn führte sie direkt in die Cafeteria von tredition. Den Namen hatte sie am Buchcover gelesen. Er gefiel ihr. Das Wort hatte keine Unterlängen und stand wie ein Schneckenfuss auf der unsichtbaren Zeile. Das erste t sah ein wenig aus, wie die Stielaugen einer Schnecke und in der Mitte hatte das Wort Oberlängen. Mit ganz viel Phantasie konnte man sich darunter eine Weinbergschnecke vorstellen. Die Weinbergschnecke hatte eine blühende Phantasie. Und Hunger. Hunger hatte sie jetzt auch. Zielsicher bewegte sie sich auf die Vitrine zu, hinterliess eine verräterische Spur auf der blitzblank geputzten Glasscheibe und fand das vergessene Schälchen mit dem welken Salat. Ein wahres Festmahl für eine hungrige Weinbergschnecke! Sie liebte die Buffets, wo der Salat nicht vorbeugend im Essig ertränkt wurde, sondern Essig und Öl erst am Tisch beigemengt wurde. Hier liess es sich für eine Weinbergschnecke gut leben.
Da hörte sie Schritte. Um diese Zeit? Tatsächlich, ein schwarz gekleideter junger Mann mit Brille und Kurzhaarschnitt kam in die Cafeteria und steuerte auf die Kaffeemaschine zu. Offensichtlich kannte er den Weg, er fand sich in der dämmrigen Nachtbeleuchtung gut zurecht. Von ihm drohte also keine Gefahr. Rasch verschwand der Mann wieder mit einer dampfenden Kaffeetasse in der Hand. Er sollte noch 4 weitere Male auftauchen, dann wurde es langsam hell und die Schnecke suchte sich ein sicheres Versteck unter der Vitrine. Sie verbrachte schon einige Tage tagsüber unter, nachts in der Vitrine. Den schwarz gekleideten Kaffeekonsumenten ignorierte sie so, wie er sie ignorierte. Sie vergass vollkommen auf das Buch, das derweilen wegen eines unerklärlichen Dokumentfehlers nicht gedruckt werden konnte. Der Salat war zu köstlich, immer genau richtig abgelegen. Jeden Tag blieb etwas für sie übrig.
Die Weinbergschnecke bleibt nicht alleine in der Cafeteria
Da hörte sie eines Nachts ein eigenartiges Geräusch. Das war nicht der Kaffeetrinker, es hörte sich viel leiser an und irgendwie nach „Platsch“. Ihre Augen hatten sich gut an das Nachtlicht gewöhnt, doch sie konnte sich nicht erklären, was sie da sah. Es wirkte wie ein hüpfendes Salatblatt, das aus der Richtung des Serverraums kam. Ihr Geruchssinn war deutlich besser als ihr Sehsinn. Erst als das vermeintliche Salatblatt die Vitrine hoch kletterte, erkannte sie den Frosch aus Band zwei der Schamanischen Märchen. Sie war ihm schon im Rechner der Schriftstellerin begegnet.
Freundlich begrüsste sie ihn: „Na? Auch gut hier angekommen?“ „Ja, wo sind wir hier?“ „In einem Verlag.“ antwortete sie. „Was mich daran erinnert, dass ich eigentlich zum Buch zurück sollte. Margot wird sicher schon auf das Buch warten. Doch morgen ist auch noch ein Tag. Willst du etwas vom Salat?“ fragte sie den Frosch. „Sind Insekten drauf?“ fragte der. „Nein, die sind sehr ordentlich hier.“ „Vegetarisch ist jetzt so gar nicht meins. Aber wenn es gar nicht anders geht, lass mich mal probieren!“ Den Rest des Abends unterhielten sich die beiden prächtig, erzählten sich ihre Geschichten und knabberten Salat. Der Frosch mit nicht ganz so viel Begeisterung, wie die Schnecke.
Tagsüber bietet die Vitrine Sichtschutz
Tagsüber hockten die beiden unter der Vitrine und dösten vor sich hin. Ab und zu fielen Essensreste zu Boden, die der Frosch mit seiner langen, klebrigen Zunge erhaschte. Sie lauschten den Kantinengesprächen. Von neuer Software war häufig die Rede. Einerseits schien die Begeisterung groß über die tollen neuen Möglichkeiten, die die App bot. Andernseits gab es aber auch ein paar Menschen, die ziemlich oft fluchten. Von einem Coverdesigner war die Rede, der sich immer wieder verhakte. Schnecke und Frosch nickten sich wissend zu. Von diesem Coverdesigner hatten sie bei der Schriftstellerin schon viel gehört und gelesen. Stundenlang saß Margot vor dem Rechner, probierte, freute sich, fluchte. Sehr oft telefonierte sie mit einer Sam, die ebenfalls über diesen Coverdesigner fluchte.
Die Schnecke konnte das gar nicht verstehen. Zeit war doch so etwas Unwichtiges! Warum Menschen dauernd zu wenig davon hatten, verstand sie gar nicht. Sie hatte alle Zeit der Welt! Apropos Welt, sie wollte doch endlich weiter durch die Welt reisen. Am Buchcover. Schweren Herzens trennte sie sich von dem täglich neu beigestellten, perfekt angewelkten Salat. Sie verabschiedete sich vom Frosch, glitt ein letztes Mal die Glasvitrine hinunter, wartete, bis der Kaffeetrinker mit einer dampfenden Tasse Kaffee zurück in sein Büro ging und machte sich auf den Weg in den Serverraum. Die glatten Metallbeine rauf, auf die Tischplatte, die warme Computerwand hoch und schwubbs, war sie im Server, suchte ihr Dokument und bereitete sich auf den Druck vor.
Der verlockende Zimmerbrunnen
Der Frosch hatte in der Zwischenzeit den Zimmerbrunnen entdeckt! Eine goldene Kugel war in der Mitte einer hellblauen Schale, in der weisse Steine lagen. Aus der goldenen Kugel sprudelte unermüdlich Wasser. Das gefiel dem Frosch, es erinnerte ihn an seine Goldkugel aus dem Märchen. Er war so verliebt in diese Goldkugel, dass er darauf vergass, sich tagsüber unter die Vitrine zurückzuziehen! Nun musste er den ganzen Tag möglichst still auf der Goldkugel sitzen, um nicht entdeckt zu werden.
Manchmal hörte er Menschen miteinander reden. „Seit wann sitzt denn ein Frosch auf dem Brunnen?“ „Der ist mir bis jetzt auch noch nie aufgefallen. Komisch.“ „Sieht aber gut aus! Als ob er echt wäre!“ Der Frosch fand keine Gelegenheit, unter die Vitrine zu hüpfen und verbrachte den ganzen Tag auf der Goldkugel. Erst, als bis auf den Kaffeetrinker alle Mitarbeiter gegangen waren, getraute er sich zur Vitrine zurück. Und es dauerte wirklich lange, bis alle weg waren! Der Coverdesigner schien für ausreichend Arbeit zu sorgen.
Erschöpft fiel der Frosch spätabends in den welken Salat. Da hörte er ein Getrappel, das er nicht kannte. Er blickte in Richtung Serverraum und staunte nicht schlecht, als ein buntes Schaf in die Cafeteria kam! „Hallo, du auch da?“ begrüsste er es. Er kannte es auch aus dem Rechner von Margot. „Ja, ich bin auch hier. Wo sind wir da?“ „In einem Verlag! Hier werden die Bücher zum Druck vorbereitet!“ „Sehr interessant, was gibt es hier zu essen?“ fragte Lola. „Abgelegenen Salat. Wird dir besser munden, als mir. Greif zu! Aber wie du dich hier morgen verstecken willst, kann ich mir noch nicht vorstellen.“ „Wieso verstecken?“ fragte Lola. „Naja, die ganzen Mitarbeiter, die da auftauchen! Was sollen die denken, wenn wir hier herumlungern, anstatt in unseren Buchdateien zu sein?“ „Ich lass das mal auf mich zukommen.“ meinte Lola und kaute an einem Salatblatt.
Das bunte schwarze Schaf ist zu groß, um sich in der Cafeteria zu verstecken
Tatsächlich blieb Lola an der Vitrine stehen, als die ersten Mitarbeiter in die Cafeteria kamen. Der Frosch versteckte sich sicherheitshalber wieder unter der Vitrine und beobachtete das Geschehen. „Was ist denn das?“ rief die Küchenhilfe, als sie Lola sah. „Bääääh!“ stellte Lola sich vor. „Du bist ja niedlich! Bist du aus der Marketingabteilung entkommen? Die haben ja immer so schräge Ideen.“ „Bäääääh!“ sagte Lola. „Ach, der Salat ist ja schon welk, komm, ich bringe dir was Frisches.“ Sie verschwand und kam kurze Zeit später mit einer großen Schale frischen Salat zurück. Lola liess sich nicht zweimal bitten und genoss ihr Frühstück.
„Was ist das denn? Ist das aus der Marketingabteilung entkommen?“ Ein Mitarbeiter auf dem Weg zur Kaffeemaschine hatte ebenfalls sofort Lola entdeckt. „Och bist du niedlich! Komm mit, ich bringe dich wieder in die Marketingabteilung.“ Lola war jetzt neugierig auf diese Marketingabteilung. Das waren sicher nette Menschen, wenn sie bunte Schafe mochten. Sie trabte mit dem Mann mit durch die Gänge bis der eine Tür öffnete und hineinrief: „Hier ist euer Schaf, passt ein bisschen besser auf, es gibt heute Mittag sonst keinen Salat in der Cafeteria!“ Lola lief in das Büro und war beeindruckt von den vielen bunten Bildern, die an der Wand hingen. Ja, hier schien es wirklich lustig zu sein. „Wo kommst du denn her?“ fragte eine junge Frau. „Du siehst ja lustig aus.“ „Bäääääh“ sagte Lola.
Des Rätsels Lösung
Da öffnete sich die Tür und der Mann, der die ganze Nacht Kaffee trank, kam ins Büro. „Ich glaube das jetzt nicht!“ sagte er und starrte Lola fassungslos an. „Ich versuche schon die ganze Nacht, dieses Buch vom bunten Schaf für die Druckerei vorzubereiten und ich bekomme immer nur „Unbekannter Bildfehler“ ausgeworfen. In der Vorschau ist ein Schaf zu sehen, doch in der Druckdatei fehlt es. Jetzt hab ich dich endlich gefunden! Komm mit mit mir, ab in den Computer mit dir! Und wenn du weißt, wo der Frosch steckt, dann sag es mir. Das Buch hängt mit dem selben Fehler schon seit über einer Woche in der Produktion fest!“
„Bääääh“ sagte das Schaf. Es wusste ja genau, wo der Frosch war. Doch sie hatte den Eindruck, dass der Mann sie nicht verstand. Also trabte sie mit ihm mit. Als sie an der Cafeteria vorbei kam, rief sie dem Frosch unter der Vitrine zu: „Hey, Frosch, die suchen dich! Sie tun dir nichts, komm auch zurück in deine Buchdatei, damit die Bücher endlich in den Shop kommen.“
Der Frosch nahm allen Mut zusammen und mit 4 großen Sprüngen war er von der Vitrine bis zu Lola gesprungen. „Ah, da bist du ja!“ rief der Kaffeetrinker. Er bückte sich, hob den Frosch ganz vorsichtig an und brachte ihn mit Lola zurück in den Serverraum. Lola und der Frosch schlüpften in ihre Buchdateien und nun konnten die Bücher endlich für den Druck aufbereitet werden.
Die Mitarbeiter bei tredition erzählten sich inzwischen, dass auch schon zwei Maulwürfe in der Cafeteria gesehen worden sein sollen. Und einige andere Figuren aus den zahlreichen Büchern, die hier verlegt werden. Ab und zu naschen sie am Buffet oder trösten gestresste Mitarbeiter, die ihr Bestes tun, um die zahlreichen Bücher der Autoren möglichst rasch für den Druck aufzubereiten. Nur die Autoren der Bücher wissen nichts davon. Was würden die denken, wenn sie in den Mails zu lesen bekämen, dass ihre Protagonisten Nachts in der Cafeteria abhängen?